Was ist eigentlich ein Generalist?

M. Oberst

Was ist eigentlich ein Generalist?

Da diese Frage nicht einfach in einem Satz zu beantworten ist, möchte ich zunächst festhalten, was ein Generalist definitiv nicht ist – ein ewig-gestriger, hypertropher Besserwisser mit realitätsfremder „ich kann alles“-Mentalität. Selbstverständlich sind die Zeiten unumkehrbar vorbei in denen die Vertreter der schneidenden Zunft noch vom Star-stechen bis zur Amputation alle damals bekannten chirurgischen Eingriffe selbst durchführten. Selbstverständlich ist es für eine einzige Person unmöglich, alle Subdiszilpinen, die sich – historisch gewachsen – unter dem großen Dach der Chirurgie entwickelt haben, zu beherrschen. Die Entwicklung der 10 großen Säulen der Chirurgie mit ihren Fachgesellschaften war und ist absolut berechtigt und wird auch nicht von uns angezweifelt.

Allerdings zeigt der Trend der vergangen Jahre eine eindeutige Tendenz der weiteren Sub- und Hyperspezialisierung innerhalb der verschiedenen chirurgischen Gebiete. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits sind sie sicher dem rasanten medizinischen Fortschritt geschuldet, mit immer kürzer werdender Halbwertszeit des fachlichen Wissens und der damit verbundenen Schwierigkeit, selbiges auf dem jeweils aktuellen Stand zu halten. Weiterhin wird durch die positive Darstellungen in der Öffentlichkeit und den Medien (Stichwort Focusliste) gewährleistet, dass der Spezialist hohes fachliches und persönliches Ansehen geniesst.
Andererseits schein es aber auch nicht unbequem zu sein, sich auf ein einzelnes spezielles Untergebiet zu konzentrieren. Dies reduziert den notwendigen persönlichen Einsatz und Aufwand hinsichtlich Fort- und Weiterbildung, das persönliche chirurgischen Trainingspensum und das eigene Engagement bzw. Arbeitseinsatz. So verwundert es nicht, dass Spezialistentum üblicherweise nur Wochentags von 7.00 – 17.00 Uhr angeboten wird. Außerhalb dieser Kernarbeitszeiten wird hingegen gerne auf den Generalisten im nächstgelegenen Krankenhaus verwiesen.
Oftmals entsteht allerdings auch der Eindruck, dass die Hyperspezialisierung nicht zuletzt mehr und mehr dem wirtschaftlichen Überlebendsdruck geschuldet ist, als dem tatsächlichen medizinischen Erkenntnisgewinn – wie sonst ist es zu erklären, dass sich beispielsweise unter den Suchbegriffen „Kniespezialist München“ bei google sage und schreibe 15600 Treffer finden?

Interessanter Weise gibt es allerdings keine Definition dessen, was eigentlich ein Spezialist ist. In der Regel definiert jeder selbst wofür er ab sofort Spezialist ist. Zwar gibt es bereits erste Bestrebungen einzelner Gruppen, Anforderungsprofile für bestimmte Sub-Spezialitäten zu etablieren (1), aber derzeit kann jeder Chirurg (jede Klinik) sich problemlos auf der Homepage als Spezialist für dies und jenes ausgeben ohne dass hierfür Referenzen oder Voraussetzungen nachgewiesen werden müssen.

Als Argumente für die zunehmende Sub- und Hyperspezialisierung wird aufgeführt, dass es durch die Fokussierung auf nur ein bestimmtes Teilgebiet zu einer erhöhten Fallzahl kommt (Stichwort Mindestmengen), was automatisch zu gesteigerter Effizienz, zunehmender Qualität und zu verringerten Kosten führen soll. Ein wissenschaftlicher Beweis für diese Thesen steht jedoch bislang aus (2, 3). Dieser Mangel an Evidenz scheint inzwischen auch außerhalb der medizinischen Fachwelt erkannt zu werden: In einem aktuellen Urteil des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg wurde der seit 2005 bestehende Mindest¬mengenbeschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für Knie-Total¬endoprothesen gekippt. Die Richter des Landessozialgerichts konnten in dem ihnen unter anderem vorliegenden Gutachten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu Knie-TEP aus dem Jahr 2005 keinen „besonderen“ Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Behandlungsqualität erkennen und forderten belastbare Nachweise für diesen Zusammenhang (4).

Dennoch wird nach wie vor – bewusst oder unbewusst – in der Öffentlichkeit bzw. den Medien (Focusliste) suggeriert, dass nur der Spezialist innerhalb eines bestimmten Gebietes gute Qualität abliefern kann, wohingegen der „Allrounder“ bestenfalls eine rudimentäre Basisversorgung vornehmen kann, und bei jeglichem Anschein von Komplexizität selbstverständlich das Feld für den Spezialisten räumen sollte.

Diesem Denken möchten wir Generalisten widersprechen. Wir verstehen uns als Zehnkämpfer, die durchaus in mehreren Disziplinen konkurrenzfähig sind. Genauso wie der Zehnkämpfer in der Leichtathletik, ist auch ein Generalist in der Lage mehrere chirurgische Disziplinen auf hohem Niveau zu betreiben. Ein Generalist ist somit ein Zehnkämpfer unter dem großen Dach der Chirurgie. Er fokussiert sich hierbei nicht nur auf eine einzelne Sub-Spezialität, sondern betreibt einen „chirurgischen Mehrkampf“. Er hat hierfür einen hohen Aufwand (der Zehnkämpfer muss mehr trainieren, als der 100m-Läufer) und erreicht seinen „Leistungsgipfel“ dadurch auch später, da die Ausbildung natürlich länger dauert. Dennoch ist er in seiner Lieblingsdisziplin durchaus mit den Spezialisten konkurrenzfähig (Die Siegeszeit im 100m-Lauf des Zehnkampfes der Leichathletik WM 2011 in Daegu (Ashton Eaton, USA, 10.46 sec) hätte im Endlauf der Spezialisten zu Platz 7 gereicht).
Welche Einzeldisziplinen ein Generalist innerhalb seines Zehn- bzw. Mehrkampfes konkret betreibt ist selbstverständlich unterschiedlich und den jeweiligen Umständen geschuldet. Ein Generalist im Bereich Unfallchirurgie muss auch fachübergreifende Kenntnisse der Notfallbehandlung im Bereich Visceral-, Thorax- und Gefässchirurgie besitzen. Demgegenüber sehen die Einzeldisziplinen eines Generalisten der Allgemeinchirurgie natürlich anders aus und beinhalten Kenntnisse der gängigen visceralchirugischen Eingriffe (z.B. Hernien-, Blinddarm- und Gallenchirurgie) – Acetabulumfrakturen wird er aber sicher nicht behandeln.
Gemeinsam ist allen chirurgischen Generalisten aber die „generalistische Grundhaltung“ oder, anders formuliert, eine „Mehrkampf-Mentalität“. Diese basiert auf einer soliden chirurgischen Basisausbildung, sowie der Bereitschaft, sich durch breite Fort- und Weiterbildung auf mehreren Teilgebieten „fit“ zu halten.

Die Frage, ob wir denn überhaupt in unserer spezialisierten Welt noch Generalisten brauchen stellt sich nicht: Es ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Ressourcen- Verknappung im Gesundheitswesen schlechterdings undenkbar, Deutschland mit einem Netz von Spezialisten zu überzeihen (5). Dies ist sowohl aus Kostengründen, aus Gründen der mangelnden Verfügbarkeit und auch aus Gründen der Logistik nicht möglich. Nach wie vor ist der breit ausgebildete Generalist – besonders außerhalb der o.g. „Kernarbeitszeiten“ – für die zeit- und wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung unabdingbar. Er ist außerdem – als „Generalist Schwerpunkt Unfallchirurgie“ – der einigste, der fachübergreifende und praktische Kenntnisse in der Versorgung des Polytrauma besitzt und daher der „Kümmerer“ für den Schwerverletzten ist.

Problematisch in dieser Hinsicht ist es jedoch, dass mit der neuen WBO die heutigen jungen Fachärzte in Orthopädie und Unfallchirurgie (die als Unfallchirurgen eigentlich per Definition für die Schwerverletztenversorgung ausgebildet und kompetent sein sollten) zunehmend eine Ausbildung durchlaufen haben, die keine ausreichenden Kenntnissen in den chirugischen Nachbardisziplinen (ACH, GCH, NCH) mehr gewährleistet. Ebenso besitzen die heutigen Fachärzte für Visceralchirurgie nur noch rudimentäre Kenntnisse in der Fraktur- und Unfallversorgung.

Ein besonderer Schwerpunkt der Arbeit der Generalisten der Chirurgie muss es daher sein, in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fachgesellschaften Strukturen zu etablieren bzw. wiederzubeleben, die es der kommenden Generation von Chiurgen ermöglicht, sich „generalistisch“ ausbilden zu lassen um auch künftig wichtige Schlüsselpositionen, wie beispielsweise die Schwerverletztenversorgung (Trama-Leader / „Kümmerer“ des Polytraumas), oder die flächendeckende Basisversorgung kompetent einnehmen zu können. Hierfür müssen wir den Kontakt und den Dialog mit allen chirurgischen Fachgesellschaften suchen um gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu erörtern.

Erschwerend kommt bei diesen Bemühungen allerdings das aktuelle Nachwuchsproblem aller chirurgischen Disziplinen hinzu. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Ärzte- bzw. Chirurgenmangels einerseits, sowie der deutlich veränderten Ansprüche des ärztlichen Nachwuchs hinsichtlich work-life-balance / Vereinbarkeit Familie und Beruf andererseits, wird es zunehmend schwieriger, junge Kollegen für die Chirurgie, geschweige denn für den langen und schwierigen Weg des „Mehrkämpfers“ zu begeistern. Erste positive Bestrebungen (Junges Forum DGU / Summerschool DGU / Werbekampagne „Schnitte“ der DGCH) zeigen Erfolge und sollten unbedingt fortgeführt werden.
Unsere Aufgabe ist es, die genannten Punkte nicht nur nach Innen in den Fachgesellschaften, sondern auch nach Außen gegenüber der Politik, den Kostenträgern und nicht zuletzt gegenüber den Patienten und der Öffentlichkeit zu vertreten und publik zu machen. Unser Ziel ist es, dass zukünftig dem Generalisten der Chirurgie dieselbe Wertschätzung zukommt, wie dem Zehnkämpfer der Leichtathletik, der als „König der Athleten“ verdientermaßen höchsten Respekt und Anerkennung genießt. Nur wenn dies gelingt, kann künftig auch der ärztliche Nachwuchs für die Chirurgie an sich bzw. für den Weg als Generalist der Chirurgie im besonderen gewonnen werden.

Literatur:
1) Mayr H (2010) Empfehlungen der AGA (Sektion der DGOU) zur Ausstattung der Einrichtung, Prozessqualität und Qualifikation des Operateurs bei arthroskopischen Eingriffen. Unfallchirurg 113:960–963
2) Oberst M(2010) Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie als Zehnkämpfer. Unfallchirurg 114:368–369
3) Loefler IJL (2000) Are generalists still needed in a specialised world? BMJ 320:436–438
4) http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/47020/Landessozialgericht_kippt_Mindestmengen_fuer_Knie-TEP.htm
5) Stürmer KM, Raschke MJ, Burger C et al (2010) Konvent der unfallchirurgischen Lehrstuhlinhaber. Eckpunkte zur unfallchirurgischen Aufgabenstellung an den Universitäten – Strukturüberlegungen zu Krankenversorgung, Forschung und Lehre. Unfallchirurg 113:957–959

Anmerkung: Aus Gründen der vereinfachten Lesefähigkeit wurde im Artikel ausnahmslos die jeweils männliche Form von Nomen bzw. Personalpronomen angewendet. Selbstverständlich ist hierbei jeweils vollkommen wertneutral auch die weibliche Form subsumiert.